Unscheinbar liegt das Ressidorf verborgen hinter Plakatwänden und einem hohen Einfahrtstor an der recht komplexen Grazer Kreuzung zwischen Großmarktstraße, Herrgottwiesgasse und Puchstraße in Graz. Ein Ort, der für die meisten Menschen der letzte Wohnort ist. 21 Männer, die meisten sehr gezeichnet vom Leben auf der Straße, vom Alkohol und anderen Suchtgiften finden hier ein Zuhause. Dürfen bleiben so lange sie möchten, haben ein Dach über dem Kopf, werden verpflegt und erhalten Hilfestellung bei der Bewältigung des täglichen, meist beschwerlichen Lebens. Pierre und Mario Payer leiten gemeinsam mit wenigen fix Angestellten, Zivildienern und Freiwilligen diese Einrichtung, die die Caritas Steiermark vor über 20 Jahren von einer privaten Initiative gegen Obdachlosigkeit übertragen bekommen hat.
Toni Tauschmann, Musiker und Kollege aus der Diözese bespielt seit 2020 einen musikalischen Weihnachtskalender und teilt die Songs über seinen Facebook Kanal. Dankenswerter Weise mit der Bitte, auch für ein Projekt der Caritas zu spenden. Heuer sammelt er für das Ressidorf. Damit auch die Bewohner davon etwas haben, ist die Idee entstanden, dort ein kleines Konzert zu spielen. Punsch und Würstel werden gekocht, Bier eingekühlt. Toni und ich spielen uns kurz ein, dann geht es in den Aufenthaltsraum. Rund 10 Bewohner sind da, es herrscht ein Kommen und Gehen. Norbert und Thorsten, aufgrund des Dialekts eindeutig als Norddeutscher erhörbar, beginnen zu schnapsen. Wir spielen die ersten Songs. „Gibt es Wünsche“, fragt Toni? „Du entschuldige i kenn di“! Das ist, wenngleich auch nicht unbedingt Tonis Favorit, möglich und gelingt ganz passabel, obwohl wir das noch nie zusammen gespielt haben. So hanteln wir uns Song für Song vorwärts. Würstel werden serviert, Franz aus der ersten Reihe ist offenbar hungrig, er nimmt das dreigängige Menü bestehend aus Knackwurst, Käsekrainer und Frankfurter.
In der Mitte sitzt Pavel, ein Rumäne, der zu einer ungarischen Minderheit gehört. Auf seiner Glatze tummeln sich einige dunkle Haarstoppeln, von vorne ist genau ein Zahn zu erkennen. Er applaudiert lautstark und freut sich offenbar sehr über die Abwechslung in seinem Alltag. Pavel ist ein ganz besonderer Bewohner. Er hat weder Krankenversicherung noch Einkommen, erhält auch keine Sozialhilfe. Pavel wohnt seit Sommer im Ressidorf.
„Eines Tag bekamen wir einen Anruf aus einem Spital, ob wir jemanden mit abklingender Tuberkulose bei uns unterbringen können“, erzählt Mario Payer, der an diesem Abend Dienst hat. Nachdem medizinisch geklärt war, dass die Krankheit nicht mehr ansteckend ist, wurde Pavel ins Ressidorf gebracht. Als Pavel aus dem Rettungsauto aussteigt und mit seinem Rollator gegen das Tor fährt und sich den Kopf anhaut, wird klar: Pavel hat nicht nur Tuberkulose, er ist auch blind. Nicht schon seit jeher, sondern seit zwei Jahren. Eine unglaubliche Herausforderung in der Betreuung und dauerhaft im Ressidorf kaum bewältigbar.
„Wir haben ihn dann untersuchen lassen, die Diagnose: Grauer Star“, so Mario Payer. Eine mittlerweile in unseren Breiten recht einfach operierbare Krankheit, die jedoch zu Blindheit führt, wenn man es nicht operiert. So wie eben bei Pavel. Dadurch, dass er nicht krankenversichert ist und auch kein Einkommen hat, fiel er durch den sprichwörtlichen Rost. Keine Versicherung, keine Operation. Auch die ersten Anfragen des Ressidorfs bei mehreren Ärzten waren nicht von Erfolg gekrönt.
Pavel wurde dann in einem Einzelzimmer untergebracht und über die Hauskrankenpflege der mobilen Betreuungsdienste der Caritas versorgt. „Seine Reichweite war allerdings stark eingeschränkt, er konnte sich selbst vom Zimmer bis zu einer Bank im Hof an der Wand entlang handeln. Bei allen anderen Wegen wurde er von unseren Mitarbeitenden begleitet“, erzählt Mario. Über Vermittlung befreundeter Organisationen fand sich dann ein Augenarzt, der die Operation bei Pavel kostenlos durchführte, inklusive Organisation des Sanatoriums und der nachfolgenden Betreuung. Und seit rund 3 Wochen kann Pavel nun wieder sehen. Nach zwei Jahren Blindheit. Demnächst bekommt er eine Brille, dann wird er wieder die volle Sehkraft haben.
Austropop-Klassiker kommen beim Publikum gut an. Ein Bewohner gesellt sich neu dazu und wünscht sich „das Lied mit der Bahnhofstrasse 104.“ Das genügt uns als Hinweis. Bei „Romeo und Julia“ von Carl Payer hauen wir uns voll rein.
„Bravo, bravo“ ruft Pavel und leert mit einem großen Schluck die Flasche Puntigamer, steht auf, geht zu Mario, umarmt ihn und drückt ihn fest. „Danke, danke Chef. Morgen gehen Gutschein“. Pavel hat Einkaufsgutscheine bekommen und kann selbst einkaufen gehen. Das erste Mal seit langer Zeit. Es ist Weihnachten.
Zum musikalischen Adventkalender von Toni Tauschmann: https://www.facebook.com/anton.tauschmann
Informationen zum und Spenden für das Ressidorf:
https://www.caritas-steiermark.at/hilfe-angebote/wohnen-unterkuenfte/betreutes-begleitetes-wohnen/niederschwellige-stationaere-wohnversorgung/ressidorf-graz