Ivan Cheresharov, 36, ist Leiter des St. Anna Integrationszentrums in der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Anlässlich seines Besuchs in Graz im Mai 2017, haben wir uns mit ihm über fehlende Integrationsmaßnahmen, mangelnde Perspektiven und schlechte Lebensbedingungen für Menschen auf der Flucht in Bulgarien unterhalten.
Caritas: In Österreich zeigt sich die Politik stolz über die Schließung der Westbalkanroute und die damit einhergehenden gesunkenen Flüchtlingszahlen. Wie hat sich die Lage in Bulgarien verändert?
Ivan Cheresharov: Die Lage in Bulgarien hat sich auch etwas normalisiert und die Zahlen sind mit ein paar hundert Asylanträgen im Monat relativ stabil. Im Winter war es allerdings schon immer ruhiger, weil die Leute während des Winters in der Türkei abwarten, bis der Frühling kommt, um über die Grenze zu gehen. Von daher gibt es momentan keinen großen Migrationsdruck.
Was erwartet jemanden, der auf der Suche nach einem besseren Leben aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder einer anderen Krisenregion aufbricht und dann in Bulgarien landet?
Da, wo die Grenzen in die Nachbarstaaten geschlossen sind und Flüchtende ihre Reise nicht fortsetzen dürfen, müssen sie Asyl beantragen. Dann fängt die ganze Prozedur an und je nachdem, ob es einen positiven oder negativen Bescheid gibt, entwickelt sich die Situation unterschiedlich. Als erstes werden die Menschen aber in Asylzentren untergebracht, während das Verfahren läuft.
Wie gestaltet sich dort der Alltag für die Menschen?
Im Prinzip bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als die Entscheidung über ihren Asylstatus abzuwarten, da es keine staatlichen Integrationsprogramme gibt. Hier müssen NGOs (Non-Governmental Organizations oder Nichtregierungsorganisationen, Anm.) wie die Caritas oder das bulgarische Rote Kreuz einspringen, die zum Beispiel Sprachkurse und Aktivitäten für Kinder anbieten – jedoch nur in Sofia. In den ländlichen Gebieten in der Nähe zur türkischen Grenze fehlen leider jegliche Strukturen sowie Sozial- und Lernangebote.
Sie haben bei ihrem Graz-Besuch auch Flüchtlings-Einrichtungen der Caritas besucht. Kann man diese mit ähnlichen Einrichtungen in Bulgarien vergleichen?
Nur schwer. Man kann weder die Standards was die Lebensbedingungen dort angeht, noch die Integrationsangebote für die Menschen vergleichen.
Können Sie die Lebensbedingungen für Menschen auf der Flucht in Bulgarien schildern?
Es gibt schon auch positive Beispiele, wo die Standards ok sind. Meist sind die Lebensbedingungen aber eher prekär.
Das heißt, es gibt viel zu tun in Bulgarien.
Ja, das kann man sagen.
Welche Perspektiven haben Menschen, die dort auf ihrer Flucht landen?
Das hängt stark von den Qualifikationen ab, die jemand mitbringt. Manche werden auf ihrer Suche nach einem besseren Leben fündig, aber das ist sehr schwierig. Das Fehlen einer staatlichen Integrationspolitik ist einfach ein großer Nachteil. NGOs können Unterstützung leisten, aber auch als Caritas sind wir nicht in der Lage, den Staat zu ersetzen. Das ist einfach nicht möglich.
Erzählen Sie, welche Aufgaben das St. Anna Integrationszentrum übernehmen kann.
Zuerst einmal machen wir keinen Unterschied, ob jemand Asylwerber oder anerkannter Flüchtling ist. Wir bieten etwa Sprachkurse an, die Menschen bekommen durch unsere Sozialmediatoren Zugang zu ärztlicher Versorgung, zum Arbeitsmarkt, etc. Man kann sagen, wir versuchen alles zu tun, um das Leben der Asylwerber und Flüchtlinge in Bulgarien zu verbessern.
Gäbe es nicht die Caritas und andere NGOs, wären diese Menschen in ihrem Bestreben sich zu integrieren, also völlig auf sich alleine gestellt?
Genau, unter dem Strich ist das so. Das staatliche Angebot beschränkt sich auf Unterkunft, Verpflegung und eine sehr beschränkte medizinische Betreuung.